Katarzyna Sowula

Zum Betriebsbahnhof

(Auszug aus dem Erzählband „Auftrieb”)

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, lehne mich aus dem Fenster, betrachte die von grünen Büschen gesäumte Weichsel und grinse breit, denn nach einer außergewöhnlichen Nacht wie dieser habe ich immer ein unkontrolliertes Grinsen im Gesicht. Einen Augenblick später lasse ich mich wieder auf den unbequemen Plastiksitz fallen, einen von der Sorte, auf denen man es keine fünf Minuten aushält, sie formen sie immer so, dass man sich jedes Mal die Wirbelsäule an dem gewölbten Scheiß stößt, der, wozu auch immer, quer über die gesamte Lehne geht.
Aus meinem Rucksack hole ich eine Flasche Apfelsaft und einen Vortrag von Frans B. M. de Waal, Bonobo: Sex and Society. Ich übersetze manchmal für meinen Bekannten, einen Anthropologen, der für so was nie Zeit hat und mir regelmäßig einige Seiten zuschiebt.
Vom Cover glotzt mich ein riesiger, geschniegelter, intelligenter Menschenaffe mit adrettem Mittelscheitel an, ein Affe, der über achtundneunzig Prozent Homosapiens-Gene besitzt und die Schimpansen weit hinter sich gelassen hat, und das will was heißen. Obwohl er, als er 1929 von dem Deutschen Ernst Schwarz entdeckt wurde, irrtümlich Zwergschimpanse genannt worden war.
In letzter Zeit habe ich zu nichts mehr Lust, nur Schwelgen im eigenen Glück, ich habe nur noch eins im Kopf, aber für den Anthropologen tue ich alles. Außerdem, je länger ich den Artikel übersetze, umso mehr fasziniert er mich.
Die Bonobos regeln alles, auch die kleinsten Lappalien, mit Sex. In ihrem hervorragend organisierten Leben gibt es keinen Platz für Krieg, denn dort herrscht ein allmächtiges Matriarchat, und falls es einmal zu ungemütlich wird, organisieren die Weibchen riesige Orgien, ohne Unterteilung in Alterskategorien, nach denen niemand mehr Kraft für einen zerstörerischen Kampf hat.
Ich hebe meinen Blick von den Unterlagen und schaue durchs Fenster auf die fetten Lettern am Eingang des Warschauer Zoos, die Hotdogbuden, die gepflegten Beete mit erlesenen Blumenmustern und die freundlichen Werbeplakate.
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Dann die Absperrungen aus Metall und das Freigehege beim Park Praski, im Klartext, einige Büsche, Steine und Beton, auf dem sich drei des Lebens überdrüssige Braunbären aalen, ÄUSSERST GEFÄHRLICHE TIERE! WIR BITTEN UM BESONDERE VORSICHT. „Die fauer Bären schaut man sich am besten aus der Straßenbahn an”, denn die Zoodirektion lässt sie als halblebendige Reklame durch das Gehege trotten, das nur durch einen Wassergraben vom Gehweg getrennt ist. So latschen sie schon über fünfzig Jahre herum, und der Großstadtgestank hat ihnen die Nasen schon bis über beide Ohren verdreht. Ich mag dieses Gehege, obwohl das Grabenwasser ziemlich versifft ist, voll von Paprikachips und Papierfetzen, und wenn so ein europäischer Braunbär Ursus arctos arctos darin eintaucht, klebt gleich das ganze grasige Grün an ihm.
„Guck mal, der Bär schwimmt!”
„Ach was. Er suhlt sich im Wasser und verscheucht bloß die Enten.”
Genau hier habe ich den Anthropologen kennengelernt. Er stand in der Zuschauermenge, an die Absperrung gelehnt, als einziger ohne Fotoapparat, Kind und schillernden Ballon. Er stand da und lauschte den mit Apfelhälften werfenden Jungs.
„Was für Lahmärsche.”
„Los, wir ärgern sie!”
„Wer die Schnauze trifft, zehn Punkte, auf den Beton, fünf, ins Wasser, null!”
Desmond Morris, ein Anthropologe, der Ende der Sechziger für reichlich Wirbel gesorgt hatte, indem er den Menschen als nackten Affen bezeichnet hatte, das weiß ich natürlich von meinem Anthropologen, hat in einem Buch geschrieben, ein intelligenter Bär könne mühelos das Zoopublikum dressieren. Kinder mögen Bären, die Bären haben keine Wahl. Lieber sterben sie an Überfütterung als an Langeweile. Obwohl sie eh nie die Elefantendame übertreffen werden, die sich an einem Tag außerplanmäßig eintausendsiebenhundertsechs Erdnüsse, eintausenddreihundertdreißig Bonbons, eintausendneunundachtzig Brotstücke, achthundertelf Kekse, einhundertachtundneunzig Orangenstücke, siebzehn Äpfel, sechzehn Papierfetzen, sieben Portionen Eis, einen Hamburger, einen Schnürsenkel und einen ledernen Damenhandschuh reingepfiffen hat. Das alles habe ich unter anderem damals erfahren, allerdings nicht mehr an der Metallabsperrung, sondern bei einem Irish Coffee in einer Bar in der Altstadt. Den Rest erfahre ich nach und nach aus Büchern, denn der Anthropologe hat eine Menge faszinierender Bücher, wohl alle von Morris, und dazu noch den Vorteil, dass er sie gerne verleiht. Ach, gibt es überhaupt etwas, das er nicht hat? Fehler vielleicht.

Der Auszug wurde von Dagmara Čamer ins Deutsche übertragen.
Die deutsche Übersetzung des Erzählbandes „Auftrieb” (Zero osiemset) erfolgte im Rahmen einer Werkstatt für Nachwuchsübersetzer am Institut der Slavistik der HU Berlin unter der Leitung von Prof. Magdalena Marszalek und unter der Betreuung von Dr. Olaf Kühl.

Die deutsche Übersetzung von „Auftrieb” erschien 2008 beim Tzuica-Verlag.

© Tzuica-Verlag

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