Taras Prochasko

Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Das Spiel hieß „Wie Gott lenkt”. Auf unserem Berg gab es viele wilde Kirschbäume. Wir zogen von einem Kirschbaum zum nächsten, die Bäume waren für uns das, was für die Boheme bestimmte Kaffeehäuser und Bars waren. Wir saßen auf den Ästen, kletterten von Ast zu Ast, schaukelten in den Baumkronen, probierten die Kirschen, bewarfen einander mit Kernen. Den Mädchen, die nicht auf Bäume klettern konnten, reichten wir Zweige mit den besten Kirschen hinunter. Solche Zweige dienten auch als Sträuße und Geschenke. Genauso wie Walderdbeeren, auf einen Grashalm gefädelt. Die meisten Walderdbeeren wuchsen am Bahndamm. Auf den Schienen zu gehen war für uns wie promenieren. Ohne auch nur einmal von den Schienen zu steigen, spazierten wir bis zur Sperrzone vor der Brücke. Die Brücke wurde bewacht. Auf der anderen Seite der Brücke befand sich die Haltestelle des Regionalzuges. Die bewaffneten Wachposten ließen mich über die Brücke gehen, wenn ich mit dem Abendzug aus Iwano-Frankiwsk kam und zwei kleine Kinder auf dem Arm hatte, die schon schliefen. An einem nebeligen Morgen

liefen Marjana und ich über die Brücke, um den Zug nicht zu verpassen. Wir sahen keinen Wachposten und konnten niemanden um Erlaubnis bitten. Als wir schon halb über die Brücke waren, tauchte hinter uns ein Wachposten auf, den wir nicht kannten. Er richtete das Maschienengewehr auf uns und befahl, die Brücke schleunigst zu verlassen. Wir beschlossen, daß es besser sei, erschossen zu werden, als aus dieser Höhe zu springen, und gingen, ohne uns umzusehen, auf die andere Seite. Einer der Posten unserer Division wurde mit einer kleinkalibrigen Waffe erschossen,

nur weil man auf sein Maschinengewehr scharf gewesen war. In der Stadt wurde der Ausnahmezustand verhängt. An allen Stadtausfahrten standen unsere BTRs, ein Militärlaster versorgte die Soldaten mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Am Ende wurden die Mörder in ingerdwelchen Gärten am Stadtrand ausfindig gemacht, und die Infanterie veranstaltete, nachdem sie die Mörder in die Enge getrieben hatte, eine regelrechte Treibjagd. Als ich auf einem Parkplatz mit eingemotteten gepanzerten Zugmaschinen Wache schieben musste, kam ein verletzter Storch

zu unserem Posten geflogen. Wir nahmen ihn mit ins Wachhäuschen, wärmten und fütterten ihn, bis er ein paar Tage später weiterfliegen konnte. Aus der Nähe sah er kleiner aus als am Himmel. Die Abschiedsfeder des Storches steckte in meinem Truppenausweis, bis sie von Parasiten zerfressen wurde. Unsere Truppenausweise verbrannten wir während der Studentenrevolte. Die Protestbewegung der Studenten begann damit, daß wir uns – als wir achtundachtzig, nach zwei Jahren Wehrdienst, an die Universität zurückkehrten – weigerten, Lehrveranstaltungen am

Militärlehrstuhl der Universität zu besuchen. Und so sind wir keine Offiziere geworden. Onkel Wlodko rief Vater in Iwano-Frankiwsk an, damit er mich davon abbrachte, die militärische Ausbildung zu verweigern. Falls es irgendwelche Unruhen gibt, sagte er, und Taras umkommt, kriegt die Familie eine viel höhere Pension, wenn er als Offizier stirbt. Einmal sprachen mein Vater und ich nachts darüber, und Vater räumte ein, daß nun die Zeit meiner Generation und meiner Entscheidung gekommen sei. Wenn du es für notwendig hältst, kannst du auch ins Gefängnis gehen,

brachte Vater es unsentimental auf den Punkt. An diesen nächtlichen Gesprächen, bei denen wir unsere Meinungen zu den wichtigsten Themen austauschten, störte mich am meisten, daß Vater eine Zigarette nach der anderen rauchte, was ich mir in seiner Gegenwart nicht erlauben konnte. Damals gab er mir eine Stange echter Marlboro, die er aus Amerika bekommen hatte. Während einer nächtlichen Autofahrt gemeinsam mit Vater zu rauchen, das wird für immer einer meiner wenigen unerfüllten Träume bleiben. Und das, obwohl ich Zigaretten in meiner frühen Kindheit gerade deswegen haßte, weil Vater im Auto rauchte. Zum letzten Mal rauchte Vater bei seinem vorletzten Krankenhausaufenthalt, einfach im Zimmer; dabei blies er den Rauch so die Wand hinauf daß er sich an der Decke sammelte und nicht zu riechen war. Diesen Trick aus Tschita hatte Vater auch schon während des Schulunterrichts in Deljatyn angewandt. Es war ein seltsamer Tag. Ich übernachtete bei Vater im Krankenhaus. In der Nacht bat Vater um eine Zigarrette, versuchte zu rauchen und begriff, daß er es nicht mehr konnte. Gegen Morgen starb im Nebenzimmer ein Mann.

Er war sehr schwer, und ich half den Schwestern, den Toten auf eine Bahre zu legen, ihn in die Leichenhalle des Krankenhauses zu schieben und den Körper auf einen speziellen Tisch zu heben. Tagsüber versuchte ich, Vaters Fieber mit Essigumschlägen auf der Stirm und um die Handgelenke zu senken. Am Abend ging ich nach Hause, um ein wenig zu schlafen. Unser jüngerer Sohn fiel aus dem Bett und holte sich eine Platzwunde auf der Stirn. Wir fuhren mit der Rettung in die Kinderklinik. Der diensthabende Chirurg war betrunken. Die OP-Schwester hatte Besuch von ihrem Verlobten, und sie liebten sich in einem freien Zimmer irgendwo im Krankenhaus. Es gab kein Novocain. Der Chirurg war einverstanden, sich von mir assistieren zu lassen, und wir nähten die Wunde erfolgreich mit ein paar Stichen, dabei mußten wir sowohl meinen Sohn als auch die Nadel gut festhalten. Nach der Operation lud mich der Doktor auf ein Gläschen ein, gratulierte mir zur Initiation und gab mir Fünfzigtausend fürs Taxi, denn der Rettungswagen war längst beim nächsten Einsatz. Ein Jahr fuhr Vater einen alten fünftürigen Wolga, den die Rettung ausgesondert hatte, als Dienstwagen; solche Rettungsautos gab es, bis die Wagen der Rigaer Automobilfabrik aufkamen. Die Scheiben der vorderen Seitenfenster klemmten ständig. Wir hatten damals eine Luftdruckpistole. Auf der Rückfahrt von Deljatyn lehnte ich mich halb aus dem Fenster und zielte bei voller Geschwindigkeit auf Dinge, die Vater mir vorgab, meist auf Verkehrsschilder. Die Pistole begleitete meinen Bruder und mich mehrere Jahre lang. Wir stellten in unserem Zimmer leere Zündholzschachteln auf den Ofen und feuerten vor dem Einschlafen

jeder ein paar Schüsse ab, einfach vom Bett aus. Nach dem Aufwachen nahmen wir uns die restlichen Schachteln vor. Jurko schoß absichtlich in die Wand, so daß dort mit der Zeit das Monogramm von Queen Victoria entstand, denn so hatte es Sherlock Holmes gemacht. Jurko kannte die Geschichten von Sherlock Holmes bis ins kleinste Detail, er konnte fehlerlos die Nachnamen sämtlicher Protagonisten nennen, sogar jene der Nebenfiguren, ebenso alle Toponyme, und er wußte, wie alle Anwesen, Gehöfte und Schlösser hießen, die in irgendeiner der Geschichten vorkamen.

Sherlock Holmes weckte seinen Wissensdurst. Jurko begann sich mit Kunstgeschichte zu beschäftigen, mit Architektur, Landeskunde, Kriminalistik, Logik, Heraldik, mit den historischen Hilfswissenschaften, mit diplomatischer Etikette und diplomatischem Protokoll und mit der Terminologie verschiedenster Wissenbereiche. Er kennt Hunderte von Weinsorten. Auf einem speziellen Bogen Papier notierte Jurko die Namen von Schriftstellern und ihre Werke, die er aus allen ihm zugänglichen Quellen zusammentrug. Er interessierte sich nur für Autoren, die vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben hatten und keine Ukrainer oder Russen waren. Als er fünfzehn Jahre alt war, umfaßte die Liste zweitausend Autoren. Der einzige gute Ukrainischlehrer ging jeden Tag mit Jurko ins Theater, zu allen klassischen Konzerten und in alle Kunstaustellungen. Bei Gastspielen fremder Theaterensembles schauten wir uns ein und dieselbe Vorstellung zwei oder drei Mal an, wenn in den Hauptrollen verschiedene Schauspieler auftraten.

„Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen” erschien 2009 in der Übersetzung von Maria Weissenböck beim Suhrkamp Verlag.
© Suhrkamp Verlag

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