Magdaléna Platzová

Aarons Sprung

Sie sitzt auf dem Boden vor dem Schrank, in dem sie Briefe, Fotos und Zeugnisse aufbewahrt, Zeitungsartikel, Einladungen, getrocknete Blumen und verblichene Trikoloren; Andenken an die Gründung der Republik, die Erstkommunion, den Matura-Ball, die Befreiung, die Hochzeit, die Geburt ihres Sohnes, die Beerdigung der Eltern, die Hochzeit ihres Sohnes, die Geburt ihrer Enkelin Milena, die Samtene Revolution, die ersten freien Wahlen; an ihre Ausstellungen.
Sie blättert Briefe durch, liest einen nach dem anderen und legt einige davon beiseite, um sie später zu vernichten. Und überlegt, wie. Verbrennen kommt ihr pathetisch vor, sie hat auch keinen Ofen. Einfach nur wegwerfen geht ebenfalls nicht, sie erträgt die Vorstellung nicht, die Briefe könnten plötzlich im Container obenauf liegen oder sogar auf dem Trottoir im Schmutz, und jemand, der seinen Mülleimer leeren kommt, könnte sie mit seinen Blicken streifen. Zerreißen kann sie sie auch nicht. Vielleicht ertränken, wie kleine Kätzchen und unglückliche Liebende. Mit einem Stein beschweren, das Papier weicht durch, die Tinte verläuft, wird Wasser, schmutziges Flusswasser, und fließt ab, ins Meer. Ihr wird bewusst, dass sie angesichts ihrer Briefe sentimental bleibt. Auch deshalb vernichtet sie sie. Und auch, um demjenigen, der ihren Nachlass durchgehen wird, falls jemand sich die Mühe machen sollte, ganz so zu erscheinen, wie sie es will. Eine Frau, die ihr Leben von allem Überflüssigen befreit hat und ganz Auge geworden ist, rein und klar wie ihre Aquarelle.
Auch einige von Bertas Tagebüchern legt sie beiseite. Milena, ihre Enkelin, möchte sie lesen, wenn sie Zeit hat.
Zeit hat Milena fast nie. Die alte Frau schaut sie morgens an und sieht die Ringe unter ihren Augen, ihre Unzufriedenheit, etwas nagt an ihr, sagt sie sich, deshalb ist sie nachts so oft unterwegs. Sie sieht an ihr die Unruhe ihrer eigenen Jugendzeit, die eigene Sehnsucht, die sich mit den Jahren auswächst und am Alltäglichen erstickt. Sie beobachtet die Enkelin, raucht die erste ihrer täglichen fünf Zigaretten und denkt über die Kunst nach. Kristýna Hládková, 88, denkt über die Kunst nach. Und über sich selbst.
Müde ist sie. Sie wirft die Briefe, die noch nicht sortiert sind, in die Schachteln zurück und schließt sie im Schrank ein.
Am Abend stürmt es, außerhalb Prags soll es sogar ein Orkan sein. Kristýna sitzt auf dem Sofa gegenüber dem Fenster und schaut auf die schwankenden, feinen Gestalten der Tannen und Silberfichten und die langen Äste der Birken. Der Blick aus dem Fenster wirkt wie ein Gemälde, auf dem das herabwallende Haar der Birken in den aufgelösten Zopf einer halbnackten Nymphe übergehen, in immer gleichen Arabesken. Das Art déco in seiner ganzen Falschheit und Unreinheit erträgt sie noch heute nicht, dabei hätte die Abscheu aus der Jugendzeit doch schon abstumpfen können unter einer Schicht von Altersnostalgie. Sie bleibt sich treu und es tut ihr nicht Leid um die Stuckbüsten und die Blüten, die sie mit dem Hammer von den Wänden ihrer Wohnung abgeschlagen hat. Der Sohn hatte ihr das übel genommen. Aber hätte sie diesen Zierrat denn ertragen können? Sie, die seinerzeit für Kirchner, Nolde und Marc gebrannt hat, und für Chagall, der wie eine Offenbarung gewesen war? Für Le Corbusier und Brancusi? Die Schülerin des Malers K., in dessen Atelier sie Berta kennen gelernt hat und durch diese noch eine weitere große Liebe, Paul Klee.
Berta, meine große Freundin und lebenslange Inspiration. So wird sie es dem Filmteam erzählen, das aus Israel angereist ist, nur um einen Film über Berta zu drehen. Berta, wird sie ihnen sagen, war in der Lage, den Dingen Leben einzuhauchen. Das ist Kunst. Tote auferstehen zu lassen, unsere Wahrnehmung zu schärfen für etwas, woran wir bisher achtlos vorbeigegangen sind. Ein Stück von einem schönen Vorhang konnte sie genauso begeistern wie ein Bild. Mir waren Vorhänge immer eher gleichgültig.
Diese Leidenschaft für alles ringsum lenkte sie aber von der eigentlichen Arbeit ab oder von dem, was man so allgemein dafür hält. Sie hat nicht viele Bilder hinterlassen. Ihre Beziehungen behandelte sie ebenso wie die Interieurs, sie wollte aufrichtig leben, jenseits aller Klischees, bequemen Lügen und Selbsttäuschungen. Reinheit, Wahrhaftigkeit und Freiheit, das waren wohl die Forderungen von Bertas ganzer Generation.
Auch ich hinterlasse ja eigentlich kaum mehr als eine kleine persönliche Spur. Sie haben kein großes Talent, sagte mein Lehrer, der Maler K., aber ein schönes. Mit Berta war es allerdings schwieriger, sie hatte das große Talent. Wann immer Kristýna von Berta spricht, muss sie auch von sich selbst sprechen, und umgekehrt.
Und doch hatte Kristýna nach gängigen Maßstäben im Vergleich zu Berta Erfolg gehabt. Nach dem Systemwandel 1989 hatte sie einige Jahre öffentliche Aufmerksamkeit genossen: Ausstellungen ihres Gesamtwerks, Preise, Auslandsreisen. Journalisten waren gekommen, hatten sie zur unmittelbaren Vergangenheit befragt und sich über das Unrecht verwundert, das ihr widerfahren war, sie hatten darüber die Köpfe geschüttelt, und Kristýna hatte dabei ein zwiespältiges Gefühl gehabt: Wo war sie all die vierzig Jahre gewesen? Saß sie denn nicht immer noch in der gleichen Wohnung? Und wenn sie also hier war und nicht auf einem anderen, absurden Planeten, wo hatten dann diese Leute gelebt, die jetzt kamen, um sie auszufragen? Mitte der Neunzigerjahre erschien eine Monographie, und danach verklang das Interesse genauso schnell, wie es aufgekommen war. Kristýna kehrte in die Einsamkeit zurück und schuf weiter, sie glaubte sogar, dass es ihr in den letzten Jahren vergönnt war, schärfer zu sehen und tiefer zu blicken als bisher. Sie experimentierte mit Gräsern, Baurinde und der Wasseroberfläche und näherte sich der Natur so weit an, dass diese sich auf dem Papier in reine Andeutungen auflöste, in luftige Ahnungen und flüchtige Abdrücke. Fast fünfzig Jahre älter als Berta, endete sie dort, wo auch diese aufgehört hatte. Sie würde ihre Freundin also nicht mehr übertreffen.
Nach gängigen Maßstäben war Berta Altmann, deren Name in Kompendien und kunsthistorischen Abhandlungen nicht vorkam und nur wenigen Fachleuten für das Ghetto Theresienstadt bekannt war, keine große Künstlerin gewesen. Im persönlichen Maßstab aber war sie riesengroß. Noch heute gibt Berta, obwohl sie tot ist, Kristýna mehr Kraft als alle Lebenden um sie herum zusammengenommen.
Kristýna schaut auf die schwankenden Gestalten der Bäume und hat das Gefühl, im Gebirge zu sein, an der feuchten, frischen, sauerstoffreichen Luft, in einem Wald, der über den Hängen rauscht wie eine vierspurige Autobahn. Sie kann es ganz genau ausmachen, es ist Nacht, und ein Mensch, ein junger Mensch stapft, einen Rucksack auf den Schultern, durch den Schnee, auf ein warmes, erreichbares Ziel zu, das er ab und an vergisst, und er wäre froh, wenn die Reise ewig dauern würde, offen, nächtlich, windig. Eines ihrer Bilder hat sie Der offene Weg genannt. Darauf ist unter einem weit gewölbten Himmel ein leuchtendes, pulsierendes Ei zu sehen, das mit einem Netz von Adern überzogenen ist.
Die kleine Gestalt mit dem Segeltuchrucksack auf dem Rücken, die durch den Schnee vor ihr herstapft und von Zeit zu Zeit anhält, um die winterlichen Sterne zu bewundern, ist Berta. Sie fehlt ihr. Der Schmerz nutzt sich ab, aber die Leere nicht.

Ich stehe am Fenster meiner Prager Wohnung, schaue hinaus: hinunter auf die Gleise und ein kleines Bahnhofshäuschen. Auf der Staffelei eine gerahmte Leinwand. Ich male. Wenn die anderen aus der Schule mich sehen könnten, sie würden mich auslachen. Ihren Augen nicht trauen. Schließlich haben wir die Staffeleien verbrannt! Wir wollten nie „nach der Natur”. Wir wollten nicht lügen. Aus dem Fenster! Ich stehe in meinem Wohnzimmer und male, was ich sehe. Ich werde zu den Gleisen, dem Bahnhof, dem leicht rötlichen Abglanz auf dem Dach des Hauses gegenüber. Ich wandere. Ich höre auf, eine bedrückte, belastete Frau zu sein. So ist mir leicht. Nicht nach innen will ich schauen, sondern nach außen.

Der Roman Aarons Sprung (Aaronův skok) wurde von Kathrin Jahnka ins Deutsche übersetzt und erschien im September 2009 beim Verlag Edition Büchergilde.

© Edition Büchergilde

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