Krisztián Grecsó

Tanzschule

An diesem ersten, wirklich heiklen Sommernachmittag, als József Voith, genannt Jocó, Jurastudent im letzten Jahr, zum ersten Mal von seinem Onkel enttäuscht wurde, betrachtete dieser gerade verzagt die Pflaumenbäume, auf denen die Schmetterlingszikaden eine Feier veranstalteten. Der milchweiße Faden hatte die versteckten Winkel zwischen den Blättern fast gänzlich zugesponnen, alles war schaumbedeckt, die Baumkrone trug ein klebriges Seidenkleid. Mit Spitzenkragen, sagte Jocós Mutter, Hanna Voith, dabei war das eine ernste Angelegenheit, die Pflaume ist eine Frucht Gottes, ein Geschenk des Schöpfers und Schnapsbrennen ist kein Spiel, das Leben ist ein Spiel, aber doch nicht der Obstgeist, der Pflaumenschnaps der Tiefebene ist der Treibstoff der ungarischen Seele, ohne Pflaumenschnaps gibt es in dieser Gegend weder Liebe, noch Verbundenheit, die Tiefebene ohne Schnaps ist wie das Mátra-Gebirge ohne Panorama. Der Schnaps ist unser Horizont, unsere Perspektive, unser Zukunftsbild, sagte Jocós Onkel, Lajos Szalma, Biologie- und Sportlehrer, manchmal und leckte dabei seinen Mundwinkel, eine Geste, die nicht gerade dezent andeutete, dass er nichts dagegen hätte, einen Doppelten zu trinken. Es war ein heißer Sommer in Feketeváros, der Treibsand im Garten von Jocós Familie glühte selbst am späten Nachmittag noch, Onkel Lajos war gleich nach seiner Ankunft auf Jocós Zukunft zu sprechen gekommen und hielt an dem Thema fest; es ging an diesem ersten, wirklich heiklen Sommernachmittag darum, wie schwierig er, der Jurastudent József Voith, es haben würde, eine Arbeitsstelle zu finden, es seien schließlich nur noch zwei Semester und der baldige Eigentümer eines Doktortitels habe noch keinerlei Zukunftspläne. Der überraschend engagierte Lajos Szalma versuchte, seinen Neffen zu motivieren, indem er ihm versicherte, ihm in Tótváros durch seine Verbindungen eine Stelle als Referendar besorgen zu können, doch Jocó empfand die Wahlheimat seines Onkels als einen lächerlichen Ort, ein Kuhdorf in einer versteckten Ecke der Tiefebene. Jocó wäre gerne in Szeged geblieben, in der Stadt der Universität, der Sonne, der strahlenden Promenaden, wo die Theiß das Stadtufer schaumig schlägt und es dem selbstbewussten Bürger vergönnt ist, in den Fußstapfen von Nobelpreisträgern zu schreiten.
Lajos Szalma schüttelte den Kopf, nein, man kann nicht so wählerisch sein, Jocó könne sich freuen, wenn er nicht arbeitslos werde; doch währenddessen spürte er wohl bereits, dass Zeit und Not große Herren sind und immer größere werden, diese Schlacht war schon gewonnen – also widmete er sich wieder den Pflaumenbäumen. Er beschloss, sie zu spritzen, dabei wusste er, dass Jocós Vater, Károly Voith, es hasste, wenn der Bruder seiner Frau sich so aufführte, als sei er der Herr des Hauses, jetzt kümmerte er sich jedoch nicht darum, schließlich war Károly gerade bei der Arbeit, also rührte er in einem Emailletopf Basudin und diverse andere Gifte an, ließ das Spritzmittel in das alte Handspritzgerät laufen, in den gelben Rucksack, wie Jocós Mutter es nannte, setzte sich eine Mütze auf und machte sich an die Arbeit. Es wehte ein leichter Wind in Feketeváros an diesem ersten, wirklich heiklen Sommernachmittag, ganz sanft, ohne Hast, als sei ihm alles gleich, als liebte er das Rauschen der Auewälder ebenso wie die Stille, als streichelte er die lieblichen Weizenfelder der Goldinsel, erwarte dafür jedoch keine Verneigung von ihnen. Lajos Szalma drückte den Hebel. Noch einmal. Dann wartete er darauf, dass sich im Behälter der Luftdruck aufbaute.
Und da hörte er sie. Zumindest erzählte er es später so, denn der Ausgangspunkt der Schwierigkeiten an diesem ersten, wirklich heiklen Nachmittag war ja gerade, dass nach Jocós Ansicht überhaupt nichts geschehen war. Diese Meinung unterschied sich von der Lajos Szalmas grundlegend, so dass keine einvernehmliche Aussage getroffen werden konnte. Lajos Szalma, anerkannter Sportlehrer in Tótváros, hatte den Hebel des Spritzgerätes gedrückt und sie gehört. Für einen kurzen Augenblick hatte er gedacht, sie käme von woandersher, doch bald bemerkte er, dass nichts zu hören war, ja, alles war still, wenn er nicht pumpte. Die Musik verstummte. Der honigsüße, rauchige Walzer tönte nur dann, wenn er spritzte. Er blickte ins Haus, auf die Terrasse, wo sich Jocó und seine Mutter im Schatten der Lebensbäume ausruhten, dann in den Garten, um festzustellen, ob noch jemand anderem aufgefallen war, dass aus seinem gelben Rucksack eine Musikbox geworden war, doch die ganze Straße hielt Siesta, die Gärten schlummerten, die Sonnenliegen und sogar die über dem Asphalt vibrierende heiße Luft waren eingenickt – obgleich sich sein geliebter Neffe nur wenige Meter von ihm entfernt unterhielt, gab es also keine Zeugen für die Verwandlung des Spritzgerätes in einen Leierkasten. Später erzählte Lajos Szalma, er habe gepumpt und der Walzer sei angeschwollen, als hätten ihn junge Roma mit glänzenden Gesichtern in den Weinlauben der Margit-Insel oder auf einer übers Wasser ragenden Terrasse am Theiß-Ufer von Feketeváros gespielt und auch er habe die Melodie mitgesummt, weswegen es vollkommen ausgeschlossen sei, dass Jocó überhaupt nichts gehört habe, ihm sei langsam, stockend auch der Text der einen oder anderen Zeile eingefallen und auch wann er diese Musik zum letzten Mal gehört habe... Er war damals so alt gewesen wie Jocó jetzt und hatte mit seiner bezaubernden Geliebten in einem Badehotel in Orosháza ein Zimmer genommen; auf der einen Seite führte ein schilfbewachsener Pfad zum Hotel, auf der anderen schlängelte sich ein Weg unter einem Weidentunnel entlang und aus dem Zimmerfenster sah man nur einen Nussbaum, dessen dürren, grimmigen Stamm und das Schilf, das unheimlich rauschende Schilf des Badedorfes, in der Gaststätte sprachen die Kellner rumänisch und der junge Lajos brachte seiner Geliebten Strudel und Rotwein aufs Zimmer und die Frau lag nackt im Purpurlicht, zusammengerollt, auf der Birnenlinie ihres Gesäßes spielte das Laub des Nussbaums sein Schattenspiel... und da ertönte von irgendwoher aus der Puszta dieser Walzer, den jetzt das Spritzgerät spielte.
Onkel Lajos behauptete, nun das Tempo gesteigert zu haben, er pumpte immer schneller, woraufhin sich der Walzer verflüchtigte und an seine Stelle ein hastiger, nervöser Tango trat, eine scharfe, aufgeregte Musik... es war unmöglich, dies zu überhören, aber es war nichts zu machen, auch Hanna Voith hatte es nicht gehört, dabei sah Onkel Lajos zu dem Zeitpunkt sogar schon die kleine muffige Kammer vor sich, in der er sich mit einer anderen Geliebten vor der Welt versteckt hatte, die Pension Cola, von deren Terrasse aus sie auf einen alten, geschlossenen Friedhof blickten und wo sie nackt rauchten, gestreift von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos, Suchlichter, die sich in Richtung Budapest entfernten und dabei diesen illegitimen Bund beleuchteten, der junge Lajos zündete sich eine Zigarette nach der anderen an, irgendwo in der Nachbarschaft wurde das Radio angeschaltet und es ertönte dieser Tango.
Onkel Lajos’ Hand verkrampfte, er hatte die dem Haus zugewandte Seite des Pflaumenbaumes so sehr besprüht, dass die stinkende Giftlösung herunter rann, also ging er in eine andere Ecke des Gartens und pumpte etwas ruhiger weiter. Der Spritzleierkasten stimmte ein würziges ungarisches Lied über eine Kaserne und traurige Mädchen an, die ihre Geliebten nur noch auf dem Friedhof besuchen können. Lajos Szalma sang und dachte daran, wie lange er dieses Lied nicht mehr gesummt hatte, zum letzten Mal, als er in seiner Jugend kein Geld hatte, um sich ein Zimmer am Theiß-Ufer zu nehmen und im Camping Europa an der Körös-Mündung auch kein Platz mehr frei war, so dass er bei einer ehemaligen Geliebten, die sich gerade in einem schwülen Zimmer der Möbelfabrik-Ferienanlage aufhielt, Unterschlupf suchte. Die von ihm verlassene Frau schlief mit ihrem neuen Verehrer auf einem Doppelbett, aus dem Dunkel des kleinen, mückenreichen Zimmers waren weitere Schlafgeräusche zu hören. Der junge Lajos legte sich aufs Bett, wartete zunächst ängstlich, wurde dann jedoch immer mutiger... da hatte er zum letzten Mal innerlich dieses Lied gesummt: Auf einem Hügel in Klausenburg steht eine Kaserne... und er wusste auch nicht, warum ihm das damals eingefallen war, vielleicht, weil der vom Körös her stark wehende Wind die Fensterläden so wütend auf und zu schlug und dem jungen Lajos vor Angst die Hand zitterte, als diese sich ihren Weg unter die Decke seiner früheren Geliebten bahnte und es ihm den Atem verschlug, als das Nachthemd zuvorkommend zur Seite rutschte. Der junge Lajos war im Lied gerade an der Stelle Ach, wie viele Mädchen trauern um ihren Liebsten... angekommen und das konnte kein Zufall sein, denn genau in diesem Moment schöpfte der neue Verehrer Verdacht, das kaum hörbare Keuchen, die knisternde Luft trieben ihm den Schlaf aus den Augen... Um den jungen Lajos trauerte niemand, als er die harte Treppe der Möbelfabrik-Ferienanlage hinunterrollte.
Jocó und seine Mutter bemerkten erst dann, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, als Lajos Szalma bereits ganz laut, aus voller Kehle brüllte, er pumpte das in eine Drehorgel verwandelte Spritzgerät, die Kurbel drehte sich und nach seiner Behauptung war plötzlich Mozart zu hören, es waren die mit tödlicher Disziplin einsetzenden Instrumente des Requiems, die hier zum Leben erwachten, Jocós Mutter erkundigte sich von der Terrasse aus, was denn das für ein Gegröhle sei, Jocó rannte zu ihm und fragte, warum Onkel Lajos denn so erbost die Wand des Nachbarhauses bespritzte, Lajos Szalma hörte jedoch nichts, denn wie er später sagte, habe wohl Wolfgangs Musik das Jammern seiner phantasielosen Verwandten unterdrückt und er habe nur die ihm entgegenschwellende Vergangenheit wahrgenommen, die schwache, so leicht in Vergessenheit geratende Zeit...

Der Auszug aus dem Roman „Tánciskola” (Tanzschule) wurde von Tímea Tankó exklusiv für das „Re: write!”-Projekt übersetzt.

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