Jana Beňová

Der Geleitplan – Café Hyäne

Petržalka – Galapagos

Eine wirkliche Stinkbombe. In der Wohnung neben Ian und Elza wohnt ein älterer Herr. Der denkt schon jahrelang, dass Elza Ians Sohn ist. Er grüßt sie munter mit Servus und boxt ihr mitunter freundschaftlich gegen den Brustkorb.
Der Nachbar kann Stinkbomben nicht ausstehen. Wenn die Kinder wieder einmal welche abbrennen, dann rennt er auf den Balkon und brüllt: „Du Wichser!” Immer wieder und immer wieder. So beginnt die vorweihnachtliche Zeit in Petržalka:
Duwichserduwichserduwichserduwichserdu.
Der Nachbar ist kein Mensch, er ist im Grunde genommen selbst eine Stinkbombe der besonderen Art. Ein Zündhütchen. Heute Nacht pilgert Elza zu seiner Wohnungstür, damit sie nicht durch die Wand hindurch eine Unterhaltungssendung im Fernsehen mit anhören muss. Sie bittet ihn, doch etwas leiser zu drehen. Seine Augen glänzen: eine Kombination aus Alkohol und Tränen. „Na, ich weiß ja nicht,” antwortet er zunächst erhaben, voller positiver Energie. „Das ist ja eine Sendung zur Unterstützung der Tatra, und da habe ich gedacht, dass alle, dass ja jeder,” fügt der Nachbar dann schon eher winselnd hinzu.
Elza kehrt in ihre Wohnung zurück, der Fernseher jenseits der Wand röhrt nicht mehr. Jetzt röhrt der Nachbar. „Ungarische Huren!” Immer wieder und immer wieder. Elza liegt im Bett und ihr laufen die Tränen. Immer wieder. Zur Unterstützung Petržalkas.

Petržalka ist ein Landstrich, wo Zeit keine Rolle spielt. Hier leben Wesen, von denen der übrige Teil der Weltbevölkerung denkt, dass sie gar nicht mehr existieren, dass sie längst ausgestorben sind. Die guten und auch die bösen. Die Gesichter der Kakerlaken hier erinnern an Dinosaurier, die Stimme des Nachbarn kommt nicht aus seinem Hals, sondern unter den Fangzähnen eines Raubtieres hervor.
Elza rennt auf den Balkon, fischt eine Flasche aus dem Abfalleimer und beugt sich zum Nachbarn hinüber. An der Wand steht ein leeres Aquarium. Sie wirft die Flasche mitten hinein und läuft schnell wieder weg um sich im Bett zu verstecken. Sie hört, wie der Nachbar auf den Balkon kommt, eine Weile ist es still. Elza zittert.
„Blauer Portugieser”, entziffert der verwunderte Nachbar schließlich aus den Scherben. Dann senkt sich Frieden übers Land.

Kalisto Tanzi

Elza: Wir hatten gemeinsam Weintrauben gegessen und dazu Roséwein getrunken. Am nächsten Tag fand ich in meiner Jackentasche einen noch feuchten Weinbeerstrunk. Er sah aus wie ein gerupfter Weinachtsbaum.
Kalisto Tanzi verschwand aus der Stadt, die von einer Hitzewelle heimgesucht worden war. Die Hitze schlug einem von den Häusern und Straßen direkt ins Gesicht, und die glühende Stadt prägte sich den Leuten auf die Stirn wie ein Siegel.
Ich blieb vor dem Theaterschaukasten stehen, um auf den Plakaten Kalistos Namen zu lesen und mir selbst noch einmal zu bestätigen, dass er wirklich existierte. Ich genieße es, diesen Namen auszusprechen, der für Kalisto seine ganze Kindheit und Pubertät hindurch eine Qual gewesen war, und diese hatte erst mit meiner Ankunft ein Ende gefunden. Ich laufe langsam ans andere Ende der Stadt, meine Beinmuskeln zittern ein wenig in der heißen Luft. Es ist Mittag. Das Einzige, was sich auf diesem Planeten wirklich bewegt, sind die Schweißtropfen. Sie rinnen die Stirn hinunter zur Nasenwurzel und dann quellen wieder neue unter den Haaren hervor.
Ich will Gift kaufen.
Ian hat gestern im Klo eine Ratte gesehen.
Der Kammerjäger hat unter seinem Laden einen Keller mit Wein. In diesem Keller entfliehen wir gemeinsam der unerträglichen Hitze, wir trinken ein Gläschen. Er erzählt mir, wie intelligent Ratten doch seien.
„Sie haben einen Verkoster, der probiert zuerst die Nahrung. Wenn der verreckt, dann rühren die anderen den Köder gar nicht erst an. Deshalb bieten wir nun schon Köder der zweiten Generation an. Die Ratte stirbt erst vier Tage nach Verzehr des Gifts. Sie stirbt an den Folgen einer inneren Verblutung. Schon Seneca hat behauptet, dass solch ein Tod schmerzfrei sei. Und überhaupt – wenn mehrere von ihnen binnen so kurzer Zeit sterben, halten die Ratten den Ort angesichts der hohen Sterblichkeitsrate für ungeeignet, und sie ziehen woandershin. Dieses Einschätzungsvermögen fehlt einigen Leuten und sogar ganzen Völkern völlig.”
Eine perfekte ekelhafte Welt. Ich lächle über den Roten Traminer hinweg. Der Kammerjäger spricht sehr schnell. Sein Gesicht ist ständig in Bewegung. Als ob er zu viele Gesichtsmuskeln hätte. Als ob ihm unter der Haut pausenlos ein Schwarm von Nagetieren hin- und herlaufen würde. Von einem Ohr zum anderen. Vom Kinn hinauf zur Stirn und wieder zurück. Ich spüre, wie ihm unter dem Tisch unruhig die Beine pendeln, und sein ganzer Rumpf wiegt sich dazu wie im Tanz.
Mir wird bei diesem Anblick übel. Mein Kopf dreht sich wie bei einem Film mit zu schnell aufeinanderfolgenden Bildern. Der Kammerjäger beugt sich zu mir herüber und wuschelt mir durch die Haare.
„Sie sind so ein süßes Mäuschen”, lächelt er mir zu. Ich lächle zurück. Ich spüre, dass ich nach Einsamkeit rieche.
Er begleitet mich hinaus und gibt mir eine Plastiktüte voller Schädlingsbekämpfungsmittel mit auf den Weg. Anstelle von Blumen. Ich halte sie fest umklammert und stolz in der Hand. Vielleicht wird das nun immer so sein, denke ich. Wenn mir Männer den Hof machen wollen, schenken sie mir anstelle von Blumen eine Tüte mit Schädlingsbekämpfungsmitteln der zweiten Generation.
Als ich aus dem kühlen Keller steige, schlägt mir die heiße Luft und eine Welt ohne Kalisto Tanzi direkt ins Gesicht.

Kalisto hatte ich bei einer Vernissage das erste Mal gesehen. Dort wurde viel getrunken, und im Laufe des Abends bildeten sich einige neue Paare. Wie Ian sagt – wenn Männer, Frauen und Alkohol zusammenkommen... – und er verweist damit auf die Grundkoordinaten zur Ortung von Sex.
Ich hatte in Kalistos blaue Augen geschaut und mich das erste Mal nach einem Wesen mit farbigen Augen gesehnt. Ian hat fast schwarze Augen. Farben waren für mich immer schon entscheidend, und es war deren Kombination in Kalistos Gesicht, was mich zu ihm hingezogen hatte. Wir haben dann bis zum nächsten Morgen beieinandergesessen und uns unterhalten. Wie das am Anfang immer so ist: man kann sein ganzes Leben noch einmal neu erzählen und alles ist erwähnenswert. Man erzählt und dreht sich langsam um sich selbst – man tanzt und mit einem der ganze Raum – ein feiner flimmernder Staub fängt sich einem in den Haaren.
In Kalisto Tanzis Gegenwart lebte mein Erzählen regelrecht auf. Mein eigenes Leben schwamm wie ein gläserner Berg vor unseren Augen. Mit jedem Wort kreierte ich es neu. Ich erholte mich. Ja, in Kalisto Tanzis Gegenwart habe ich mich erholt. Darüber ließe sich bestimmt ein Buch schreiben. Was wäre das für ein Musical: Ach, liebe Fee, wenn du wüsstest, was ich alles erlebt habe...

Doch wir haben nun Mittag. Ich sitze in einem Café. Ganz in Braun gekleidet: eine alte Frau. Ich sitze Ian gegenüber. Ein altes Paar. Die Stille zwischen uns wird nur durch die Schlagzeilen der Zeitung unterbrochen. Ian verlautbart sie mir hier und da über den Tisch hinweg. Und dann liest er weiter. Die Zeitung ist wie eine Zugbrücke. Von Zeit zu Zeit klappt Ian sie herunter und blickt mir ins Gesicht. Unsere Augen begegnen sich nicht. Der Wein schmeckt nach getrockneten Pflaumen und Schokolade. Die Aufschrift Coca Cola auf dem Tischtuch hebt sich langsam und nahezu unauffällig meinem Gesicht entgegen. Ich beschwere das Tuch mit einem Tellerchen. Ich habe es gern, wenn alles auf seinem Fleck bleibt.
Zu Hause dann sitze ich am Tisch und schreibe Kalisto einen Brief. Ian blickt mir über die Schulter – Ach, solch einen langen Brief musst du schreiben, du Arme? Würde nicht eine SMS reichen? Zum Beispiel: Wo bist du?

Die Auszüge aus dem Roman „Plán odprevádzania. Café Hyena” (Der Geleitplan. Café Hyäne) wurden von Andrea Koch-Reynolds exklusiv für das „Re: write”-Projekt übersetzt.

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